16. November 2021

Normative Grundlagen für die Schutzziele aller Naturgefahren

Autorin: Eva Kämpf, Fachspezialistin Weiterbildung Prävention, Aargauische Gebäudeversicherung

 

Die Publikation der revidierten Norm 261/1 «Einwirkungen auf Tragwerke – Ergänzende Festlegungen» am 1. November 2020 markiert einen Meilenstein. Zum ersten Mal in der Schweizer Baunormen-Geschichte besteht eine normative Vorgabe für die Schutzziele bei allen Naturgefahren.

Definition Schutzziele

Schutzziele definieren die konkreten Anforderungen an ein Gebäude zum Schutz von Personen und Sachwerten. Diese Schutzziele sind umso höher anzusetzen, je höher der zu erwartende Schaden über die Nutzungsdauer des Gebäudes ist.

Baunormen beschreiben bautechnische, schweizweit geltende Schutzziele. Die kantonalen Vorgaben übersteigen die Anforderungen der Norm SIA 261/1 insbesondere im Aargau in der Regel nicht.

Was war in den Normen bisher geregelt

Der Gebäudeschutz vor Wind und Schnee ist in den Baunormen bereits seit Längerem geregelt. Die entsprechenden Normen sind mutmasslich anerkannte Regeln der Baukunde, welche von Gesetzes wegen zu beachten sind.

Was regeln die Normen neu

Neu sind in den Baunormen nun auch die Schutzziele aller gravitativen Naturgefahren sowie die Schutzziele bezüglich Hagel einheitlich definiert. Gravitative Naturgefahren umfassen Hochwasser, Oberflächenabfluss, Rutschungen, Murgänge, Hangmuren, Steinschlag, Blockschlag, Eisschlag, Lawinen und Schneedruck auf Hängen.

Die normativen Vorgaben der Schutzziele gravitativer Naturgefahren sowie für Hagel sind zurzeit vermutlich noch keine Regel der Baukunde. In Zukunft, mit der verbreiteten Anwendung in der Baubranche, werden diese Vorgaben als Regeln der Baukunde gelten. Für neue Planungsverträge (zum Beispiel Architektur), welche auf den Ordnungsnormen des SIA basieren (SIA 102 ff.), gelten die Anforderungen der Norm SIA 261/1 jedoch aufgrund der üblichen Kopplung an das geltende Normenwerk.

Wegleitung zur Norm

Seit dem 1. Januar 2020 ist die Wegleitung SIA 4002 «Hochwasser – Wegleitung zur Norm SIA 261/1» erhältlich. Die Wegleitung erläutert mithilfe von Abbildungen, Fotos und Beispielen die Anwendung der Norm SIA 261/1, Kapitel «Hochwasser». Sie dient als Hilfestellung für Auswahl, Planung und Bemessung von Massnahmen zum Hochwasserschutz am Objekt oder in dessen naher Umgebung.

Normative Schutzziele für neue Gebäude und Anbauten

Die Schutzziele gemäss SIA 261 und 261/1 werden nach Bauwerksklasse abgestuft (BWK I-III). Der Nutzungszweck beziehungsweise die Funktion eines Bauwerks kann höhere Schutzanforderungen rechtfertigen. So muss zum Beispiel ein Spital auch bei einem Extremereignis noch funktionieren.

Die Norm SIA 261/1 legt für normale Wohn- und Gewerbegebäude (BWK I) folgende Schutzziele fest:

  • Das 300-jährliche Ereignis als Schutzziel gegen gravitative Naturgefahren.
  • Das 50-jährliche Ereignis als Schutzziel gegen Hagel. Für den Kanton Aargau gilt demnach die Hagelwiderstandsklasse HW 3 (3 cm Korndurchmesser) für alle Bauteile der Gebäudehülle.

Für die BWK II und BKW III gelten höhere Anforderungen an die Tragsicherheit und Gebrauchstauglichkeit:

  • Neben dem Bemessungsereignis mit Wiederkehrperiode von 300 Jahren (HQ300) als Schutzziel gegen Hochwasser und Oberflächenabfluss ist auch das Extremereignis mit grösserer Wiederkehrperiode (EHQ) abzuklären. Es ist dabei das massgebende Bemessungsereignis unter Berücksichtigung der in der Norm aufgeführten Bedeutungsbeiwerte und Höhenzuschläge für HQ300 respektive EHQ zu ermitteln. Der höhere Wert ist zu verwenden.
  • Auch für die restlichen gravitativen Naturgefahren sind ab BWK II höhere Anforderungen zu erfüllen.
  • Die Hagelwiderstandsklasse für BWK II und III ist für den Kanton Aargau bei einem HW 4 festgelegt.

Was gilt nun im Kanton Aargau?

Die Baubewilligungsbehörden sind an das kantonale Baugesetz gebunden. Was gilt es im Kanton Aargau hinsichtlich Gebäudeschutz vor Naturgefahren zu beachten:

Hochwasser und Oberflächenabfluss

Die baurechtliche Mindestanforderung bezüglich Hochwasser im Kanton Aargau ist gemäss kantonaler Schutzzielmatrix in der Regel ein 100-jährliches Ereignis (HQ100). In Analogie dazu wird das Schutzziel hinsichtlich Oberflächenabfluss bei einem 100-jährlichen Niederschlagsereignis angesetzt.

Massnahmen zum Schutz vor Hochwasser und Oberflächenabfluss werden gegenüber der Baubewilligungsbehörde und der Aargauischen Gebäudeversicherung (AGV) mittels Hochwasserschutznachweis dokumentiert. Darin wird auf die Diskrepanz zwischen den normativen und kantonalen Schutzzielen hingewiesen. Mit der Unterschrift unter Punkt 3.3 «Erklärung» bestätigen Eigentümerschaft und Projektverfassende, zur Kenntnis genommen zu haben, dass Risikobetrachtungen und geltende Normen allenfalls wesentlich höhere Schutzziele verlangen.

Im Kanton Aargau ist die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss (GOA) derzeit baurechtlich nicht verbindlich. Weist die Parzelle auf der GOA eine Gefährdung durch Oberflächenabfluss auf, empfiehlt die AGV der Bewilligungsbehörde, einen Hinweis auf eine mögliche Gefährdung zu machen. Denn die Umsetzung von freiwilligen Schutzmassnahmen wird empfohlen. Nach einem Überschwemmungsschaden kann die AGV geeignete Schutzmassnahmen verlangen. Nachträgliche Massnahmen sind in der Regel teurer und nur schwer ins Gesamtbild einzufügen.

Möglicher Hinweistext für die Baubewilligung:

Hinweis auf Oberflächenabfluss

Ihr Grundstück liegt in einem Gebiet, für das die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss einen möglichen Starkregenabfluss ausweist. Oberflächenabfluss ist der Anteil des Regenwassers, der bei besonders starken Niederschlägen auf der Geländeoberfläche abfliesst.

Die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss wurde vom Bundesamt für Umwelt publiziert und zeigt schweizweit die potenziell durch Oberflächenabfluss gefährdeten Gebiete auf.

Im Kanton Aargau ist die Gefährdungskarte Oberflächenabfluss derzeit baurechtlich nicht verbindlich. Wir empfehlen, Schutzmassnahmen dennoch freiwillig umzusetzen. Die Gefährdung muss vor Ort überprüft werden.

Nach einem Überschwemmungsschaden kann die AGV geeignete Schutzmassnahmen verlangen. Nachträgliche Massnahmen sind in der Regel teurer und nur schwer ins Gesamtbild einzufügen.

Rutschungen und Steinschlag

Hinweisen auf eine Gefährdung durch Rutschungen oder Steinschlag muss die Baubewilligungsbehörde seit jeher nachgehen und geeignete Schutzmassnahmen verlangen. Als mögliche Grundlagen können dienen: Naturereigniskataster «StorMe» (www.ag.ch/geoportal), Hinweise auf eine Gefährdung aus vergangenen Ereignissen, allfällige Gefahrenkarten oder -analysen.

Hagel

Generell prüft die Baubewilligungsbehörde den Schutz vor Hagel nicht. Es macht aber Sinn, die Bauherrschaft bereits in der Baubewilligung auf das versicherungsrechtliche Schutzziel Hagelwiderstand HW 3 und neu auf die Baunorm SIA 261/1 hinzuweisen.

Möglicher Hinweistext für die Baubewilligung:

Hinweis Naturgefahrensicherheit – Hagel

Alle ständig der Witterung ausgesetzten Bauteile sollen dauerhaft und genügend hagelresistent sein. Das versicherungsrelevante Schutzziel für Hagel liegt bei HW 3. Das heisst, dass Bauteile, sofern solche am Markt verfügbar sind, einem Hagelkorn von 3 cm Durchmesser standhalten müssen. Dies ist wichtig, damit die AGV im Schadenfall eine umfassende Leistung erbringen kann und der Versicherungsschutz nicht in Frage gestellt ist (s. § 5 Abs. 2 lit. a Verordnung zum Gesetz über die Gebäudeversicherung (GebVV) vom 2. Mai 2007 (Stand 1. Juli 2012); SAR 673.111).

Die Schweizer Norm 261/1 fordert teilweise wesentlich höhere Schutzziele.

Wind und Schnee

Den Gebäudeschutz vor Wind und Schnee prüft die Bewilligungsbehörde im Kanton Aargau nicht separat. Es gelten die Normen des SIA.

Fazit

Die Verantwortung für die Umsetzung der SIA-Normen liegt nicht bei den Bewilligungsbehörden, sondern bei der Bauherrschaft respektive bei den Planerinnen und Planern von Bauvorhaben. Die Baubewilligungsbehörden sind an das kantonale Baugesetz gebunden und prüfen Hochwasserschutznachweise sowie Hinweise auf Rutschungen oder Steinschlag wie bis anhin. Die AGV empfiehlt ausserdem, in den Baubewilligungen auf die Umsetzung von freiwilligen Schutzmassnahmen im Zusammenhang mit der Gefährdungskarte Oberflächenabfluss, auf das versicherungsrechtliche Schutzziel hinsichtlich Hagel sowie generell auf die Norm SIA 261/1 und die damit verbundenen teilweise höheren Schutzziele hinzuweisen.

 

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